Ein Mensch, den ich liebe und den mir Glück und Gesundheit bringt

Ein Mensch, den ich liebe und den mir Glück und Gesundheit bringt
Ganz herzlich danke ich dir für deinen lieben Brief und die Einladung zu deiner Hochzeit. Dass ich daran nicht teilnehmen kann, tut mir sehr, sehr leid. Aber du wirst verstehen, dass ich Onkel Kurt die Anstrengungen einer so weiten Reise nicht zumuten kann, ihn aber auch nicht gern ein paar Tage allein lasse. Dass ich an deinem Hochzeitstag mit vielen guten Wünschen und Gedanken bei dir sein werde, das verspreche ich dir.

Leider kenne ich deinen Verlobten noch nicht, aber da du ihn dir zum Lebensgefährten gewählt hast, bin ich sicher, dass er deiner Wahl würdig ist. Ganz besonders freut es mich, dass ihr, wie du schreibst, bemüht sein wollt, eine christliche Ehe zu führen. Nach meiner Erfahrung ist der gemeinsame Glaube der tragende Grund für eine Ehe. Es freut mich auch, dass ihr den Mut habt, in dieser Zeit mit der so trüben Zukunft eine Familie zu gründen. Ganz abgesehen davon, dass zum Heiraten immer Mut gehört – die Aussichten für euch junge Menschen sind ja wirklich nicht rosig. Als Onkel Kurt und ich uns Anfang der Dreißigerjahre verlobten, waren die Verhältnisse jedoch noch weniger einfach. Damals hatten wir sechs Millionen Arbeitslose.

Dein Onkel und ich lernten uns 1929 beim Studium in Göttingen kennen. Wir sangen zusammen im Singkreis Göttinger Studenten, einem Kreis, der aus der DCSV, der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung, hervorgegangen war und dessen Mitglieder fast ausschließlich Naturwissenschaftler und Theologen waren. Beim Singen, Wandern und Volkstanz hatten wir die beste Gelegenheit, uns kennen zu lernen. Schon bald stellten wir fest, dass wir in unserer Weltanschauung und Lebensauffassung gut zusammenpassten. Kurt, der Naturwissenschaftler, kam aus dem B. K. (Bibelkreis höherer Schüler), ich, die Theologin, aus dem Wandervogel. Wir waren davon überzeugt, dass der gemeinsame Glaube und die Herkunft aus der Jugendbewegung eine gute Grundlage für eine Ehe geben könne, abgesehen von der Liebe natürlich! Es war ein unbeschreibliches Gefühl, einen Menschen zu haben, dem man sich ganz aufschließen und dem man restlos vertrauen konnte.

Mit der Heirat haben wir dann noch vier Jahre warten müssen. Erst mussten wir unser Studium zu Ende führen, und die Aussichten für den Lehrberuf, den Kurt anstrebte, waren bei der schlechten wirtschaftlichen Lage denkbar ungünstig. Während der zweijährigen Referendarausbildung gab es keinerlei Zuschüsse. Ich schloss mein Studium mit dem ersten theologischen Examen ab. Als Kurt nach der Referendarzeit beim Schulkollegium vorsprach, bedeutete man ihm, er solle in zehn Jahren wieder einmal nachfragen. Da wurde ihm die Leitung eines Freizeitheimes des westfälischen B. K. an der Ostsee angeboten, und daraufhin konnten wir heiraten.

Wir haben sehr bescheiden angefangen, aber die Freude, nun endlich einander ganz angehören zu dürfen, machte alles leichter. Die Arbeit mit Schülern und anderen Gästen des Hauses (wir beherbergten zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer mit seinem Predigerseminar der Bekennenden Kirche für sieben Wochen auf unserem Hof) erfüllte uns ganz. Kurt hatte viele Kämpfe mit Partei und Hitlerjugend auszufechten, denen das christliche Heim ein Dom im Auge war und das sie gar zu gern geschluckt hätten.

Im zweiten Sommer wurde unsere erste Tochter geboren, die bei der Geburt starb. Das war ein großer Schmerz, der uns aber enger verband. Als eineinhalb Jahre später unsere Renate zur Welt kam, hatte Onkel Kurt mittlerweile eine schlecht bezahlte Stelle an einer kleinen Privatschule. Wir gehörten zu den „Volksgenossen, die Anspruch auf verbilligte Margarine“ hatten! Nach siebzehn Monaten wurde Gertrud geboren; da war mein Mann schon Assessor an einem Mädchengymnasium seiner Heimatstadt. Wir konnten schon ein wenig aufatmen. Doch ein Jahr später brach der Zweite Weltkrieg aus, der uns für mehr als sechs Jahre auseinander riss.

Ihr Jungen könnt kaum ermessen, was es für eine Ehe bedeutete, jahrelang getrennt zu sein. Viele Ehen sind daran zerbrochen. Dabei hatten wir es noch gut; mein Mann blieb als Meteorologe innerhalb der Reichsgrenzen und war nicht stärker gefährdet als die Zivilbevölkerung auch. Ich lebte mit meinen drei Kindern fast vier Jahre lang in einem kleinen Ort an der polnischen Grenze, wo wir ruhig schlafen konnten und die Kinder in ländlicher Freiheit heranwuchsen. Im Herbst 1944 kehrten wir auf Kurts Wunsch in unsere Heimatstadt zurück, wo gerade die Serie der großen Bombenangriffe begann, weshalb wir ein winziges Behelfsheim auf dem Lande bekamen, wo wir am 1. April 1945 das Kriegsende erlebten.

Nun erst begann für uns der Kampf um das Überleben in seiner ganzen Härte. Die Probleme um das tägliche „heil, rein, satt und warm“, also die elementaren Lebensbedürfnisse, waren oft unlösbar. Im Januar 1946 kehrte Kurt aus der Gefangenschaft zurück. Wir waren beide am Ende unserer Kraft, wir waren um die besten Jahre unseres Lebens betrogen, aber nun konnten wir die Anstrengungen dieser Zeit wieder gemeinsam tragen. Im Herbst 1946 konnte mein Mann endlich in den Schuldienst zurückkehren, und wir bezogen unsere nur leicht bomben geschädigte Wohnung. Als im eisigen Winter 1946/47 die Temperatur in der Küche, dem einzigen heizbaren Raum, nicht mehr über acht Grad stieg, fing für mich das nächtliche „Kohlenklauen“ an.

Immer wieder erlebten wir Wunder gnädiger Durchhilfe. Freunde aus Südafrika und uns unbekannte Christen aus Kanada schickten Pakete mit Lebensmitteln und Kleidung. Im Januar 1948 kam trotz aller Entbehrungen der von mir so heiß er-sehnte kleine Martin gesund und kräftig zur Welt. Nach der Währungsreform im Juni 1948 normalisierte sich das Leben allmählich wieder – notvoll blieb es noch lange. Und doch denken wir an jene Zeit mit großer Dankbarkeit zurück: Wir waren wieder zusammen, Kurt war befriedigt in seinem Beruf, und gemeinsam uns an unseren Kindern erfreuen zu können, das war ein Glück, das uns so viele Jahre versagt gewesen war.

In Bezug auf die Erziehung unserer Kinder waren wir uns von Anfang an einig gewesen. Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, sie zu fröhlichen Christenmenschen zu erziehen und ihre Jugend so schön wie möglich zu gestalten. Es ging noch jahrelang sehr knapp bei uns zu, aber wir haben gespielt und gesungen und Hausmusik gemacht. Immer waren Freunde und Freundinnen im Haus, es war oft „etwas los“ bei uns. Wir haben unsere Kinder schon früh „an langer Leine“ laufen lassen, und sie haben es uns gedankt, indem sie uns nicht enttäuschten.

Und mein Beruf? Vor fünfzig Jahren gab es noch keine verheirateten Theologinnen. Ich hatte mich für Familie und Kinder entschieden und schied damit automatisch aus dem Kirchendienst aus. Doch bin ich mein Leben lang vom Dienst an der Kirche nicht losgekommen. Während des Krieges habe ich drei Jahre lang die verwaiste Gemeinde meines Schwagers in Ostdeutschland betreut, und in den letzten fast vierzig Jahren war ich in unserer Gemeinde tätig (natürlich ehren-amtlich). Ich habe Frauenhilfen geleitet, mich um Alte und Kranke gekümmert, Gottesdienste und Freizeiten gehalten. Auch Kurt hat jahrelang in der Gemeinde mitgearbeitet, und so wuchsen die Kinder ganz von selbst in das Gemeindeleben hinein. Die Arbeit in der Gemeinde hat mich davor bewahrt, im Kleinkram des Haushalts aufzugehen. Ob ich mich „selbstverwirklicht“ habe? In meiner Jugend gab es das Wort noch nicht, und ich habe auch später nie Zeit gehabt, mir darüber Gedanken zu machen.

Und nun wirst du fragen: Haben sich die Wünsche und Erwartungen, mit denen ihr eure Ehe begannt, erfüllt? Hat es nie Spannungen, Krisen bei euch gegeben? Als wir einmal ein junges Brautpaar zu Besuch hatten und ich davon sprach, dass es in jeder Ehe Spannungen und Krisen gebe, meinte unser damals dreizehnjähriger Jüngster: „Nur bei euch nicht!“ Wir haben uns über diesen Ausspruch gefreut, merkten wir doch daran, dass die Kinder unter elterlichen Spannungen nicht gelitten hatten.

Aber Spannungen hat es natürlich bei uns auch gegeben. In einer so engen Gemeinschaft, wie eine Ehe sie darstellt, muss es zwischen zwei Menschen mit ausgeprägten Charakteren zu Spannungen kommen, es sei denn, der eine Partner gibt sich ganz auf und ordnet sich ganz dem anderen unter. Das kann aber nicht der Sinn einer Ehe sein. Es gibt keine „vollkommene Ehe“, weil es keine vollkommenen Menschen gibt.

Ein Sprichwort sagt: „Liebe mag blind sein, aber die Ehe ist ein ausgezeichneter Augenarzt.“ Ein Mensch kann sich nicht pausenlos von seiner besten Seite zeigen. So bröckelte auch in unserem Ehealltag manches ab von den Idealvorstellungen, die wir uns von dem geliebten Menschen gemacht hatten. Übrig blieb ein unvollkommener Mensch, aber eben ein Mensch, den ich liebe und von dem ich mich geliebt weiß. Es hat in unserer Ehe immer wieder Krisen gegeben, und nicht selten ist die Sonne über unserem Zorn untergegangen. Das war aber kein Grund, auseinander zu laufen. Am Ende haben doch immer wieder Liebe und Treue gesiegt und die Gewissheit: Wir gehören zusammen, trotz allem. Ich glaube, bei der abenteuerlichen Reise durch die Ehe muss man außer Liebe eine gute Portion Geduld, Humor – und vielleicht auch ein ganz klein wenig Resignation im Reisegepäck haben.

Es ist eine Gnade, miteinander alt werden zu dürfen, aber es ist auch eine Aufgabe, die jeden Tag neue Kraft erfordert. Die Kräfte des Geistes und des Körpers nehmen ab, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger schnell. Man wird eigensinniger; Eigenschaften, die früher verdeckt waren, treten schärfer hervor. Man nimmt manches Unwichtige zu wichtig. Ich glaube, gerade für die alte Ehe gilt das, was Manfred Hausmann sagt: „Liebende leben von der Vergebung.“ So sind wir dankbar für jeden Tag, den wir noch zusammen sein dürfen, und darüber hinaus für vieles andere. Wir haben keine wirtschaftlichen Sorgen, sind leidlich gesund und freuen uns an Kindern und Enkeln.

Nun ist mein Brief viel länger geworden, als ich beabsichtigt hatte. Du wirst ja gewiss nach der Eheschließung in deinem Beruf bleiben, zumindest, bis Kinder kommen (und ich hoffe sehr, dass ihr euch Kinder wünscht!). Aber lass darüber deine Ehe nicht zu kurz kommen! Was ich euch wünsche für euren gemeinsamen Lebensweg? Nicht den Himmel auf Erden (den kriegt ihr sowieso nicht), nicht die Ehe als sanftes Ruhekissen, aber ich wünsche euch, dass eure Liebe alle Wandlungen und Stürme übersteht und ihr einmal sagen könnt, was Matthias Claudius seiner Frau zur Silbernen Hochzeit schrieb:

Ich war wohl klug, dass ich dich fand,
doch ich fand nicht,
Gott hat dich mir gegeben.
So segnet keine andre Hand.
Dich, mein liebes Patenkind, und deinen Verlobten grüßt recht herzlich
Deine alte Patentante

lesen Sie weiter